FH-Forschungsteam: Corona-Pandemie hat psychosoziale Probleme benachteiligter Jugendlicher verstärkt
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Die COVID-19-Pandemie scheint abzuebben. Nun gibt eine Studie der FH Bielefeld und der Hochschule für Gesundheit Bochum einen aktuellen Überblick über den internationalen Forschungsstand zu den Auswirkungen der Lockdowns auf die psychosoziale Gesundheit junger Menschen. Im Fokus: bildungsbenachteiligte Jugendliche. Die Studie zeigt: psychosoziale Probleme haben zugenommen, Lösungen sind gefragt. Diese erarbeiten die Forschenden im Projekt co*gesund nun gemeinsam mit Fachkräften und Jugendlichen, denen sie so eine Stimme geben möchten.
Bielefeld (fhb). Die Lockdowns während der COVID-19-Pandemie wirken nach. „Viele Jugendliche haben noch heute mit den Folgen der sozialen Isolation und den Schulschließungen zu kämpfen“, weiß Prof. Dr. Anna Lena Rademaker vom Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule (FH) Bielefeld. Besonders deutlich zeigt sich dies bei sozial- und bildungsbenachteiligten Jugendlichen. Hier liegen häufig deutlich mehr Belastungen bei gleichzeitig weniger Ressourcen und Chancen vor.
Regelbruch half Jugendlichen im Lockdown, ihre psychosoziale Gesundheit zu stärken
In der Pandemie hatte sich die Situation zugespitzt: Es gab zum Beispiel keine Freizeit- und Jugendtreffs zum Austausch. Zudem fehlten niedrigschwellige Unterstützungsangebote. Aber Jugendliche haben auch Strategien entwickelt mit den Einschränkungen umzugehen. Sie haben sich Alternativen geschaffen, aber auch gegen Corona-Regeln verstoßen, sich etwa unerlaubterweise mit Freundinnen und Freunden im Keller getroffen. „Dieser Regelbruch hat ihnen geholfen, die Krisensituation Lockdown zu bewältigen, er hat ihre psychosoziale Gesundheit gestärkt“, fasst Rademaker eine erste Zwischenerkenntnis aus Diskussionen mit Jugendlichen im Rahmen des von ihr geleiteten Forschungsprojekts co*gesund zusammen.
Das gemeinsam mit der Hochschule für Gesundheit Bochum durchgeführte Projekt wird vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) NRW und der Europäischen Union gefördert und untersucht die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die psychosoziale Gesundheit junger Menschen. Ziel: Forschende, Fachkräfte und Jugendliche sollen gemeinsam konkrete Handlungsempfehlungen für zielgruppengerechte Maßnahmen zur Gesundheitsförderung entwickeln. Es ist eine Machbarkeitsstudie und damit eine Art Vorstudie, die erste Lösungsansätze prüft und das Thema anschließend möglichst in einem längerfristig angelegten Projekt in der interdisziplinären Forschungsgruppe verankert.
FH-Team fasst Forschungsstand im Wissenschaftsjournal „Sustainability“ zusammen
Neben dem Team der Hochschule für Gesundheit Bochum arbeiten auf Bielefelder Seite im Team von Prof. Rademaker Karen Heid und Saskia Beckmann. Beide sind Studentinnen des Masters „Sozialwissenschaftliche Transformationsstudien“ und können nun im Rahmen des Projekts einen ersten Erfolg verbuchen: Ihr gemeinsam mit dem Team der Hochschule für Gesundheit erstellter Überblick über den internationalen Forschungsstand zum Thema hat es in das Wissenschaftsjournal „Sustainability“ geschafft. Kürzlich wurde der Beitrag unter dem Titel „Well-Being during the Pandemic – Insights from a Rapid Review on the Mental Health of Disadvantaged Youth and Young Adults“ veröffentlicht. Die Forschenden hatten aus einer Vielzahl internationaler Studien 42 Arbeiten herausgefiltert und analysiert. Kriterien waren unter anderem Land/Region, Alter und Bildungsbenachteiligung der Probanden und natürlich der Bezug zu Corona. Um die Vergleichbarkeit der Lebensumstände der zu untersuchenden Gruppe zu gewährleisten, waren nur Studien aus Industrieländern einbezogen, die meisten aus den USA und Deutschland, andere aber auch aus Norwegen, Großbritannien, Kanada und Brasilien. Herausfordernd war die Analyse trotzdem: „Wir mussten Unterschiede in der methodischen Herangehensweise und in der Pandemieentwicklung der betrachteten Länder berücksichtigen und austarieren“, erläutert Saskia Beckmann.
„Die psychosoziale Gesundheit junger Menschen hat sich während der Pandemie verschlechtert – vor allem bei denjenigen, die ohnehin sozial und in Bezug auf ihre Bildungschancen benachteiligt sind“
Saskia Beckmann, Studentin des Masters Sozialwissenschaftliche Transformationsstudien
Das Ergebnis ist eindeutig und bestätigt die Beobachtungen aus der Praxis: „Die psychosoziale Gesundheit junger Menschen hat sich während der Pandemie verschlechtert – vor allem bei denjenigen, die ohnehin sozial und in Bezug auf ihre Bildungschancen benachteiligt sind“, fasst Beckmann zusammen. Rademaker wundert das nicht: „Seit Jahrzehnten beobachten wir diese Entwicklung im Zusammenhang von Gesundheit und sozialer Benachteiligung. Corona wirkt wie ein Brennglas, es verstärkt die Probleme.“ Die Professorin nennt ein Beispiel: „Wer Angst vor Klausuren hat, hat möglicherweise Eltern oder Freunde, die diese Ängste mit Wissen, Erfahrung oder auch Beziehungen auffangen können. Wer aber aus einem sozial- und bildungsbenachteiligten Haushalt kommt, ist häufig auf externe Unterstützung angewiesen wie die Soziale Arbeit in der Schule oder in Freizeiteinrichtungen.“ Während der Lockdowns fielen diese Unterstützungsangebote fast flächendeckend weg. „Das hat den Druck auf die Jugendlichen enorm verstärkt und die Gesundheit belastet.“
Dabei ist die allgemeine und psychosoziale Gesundheit eine wesentliche Voraussetzung dafür, eine entscheidende Entwicklungsaufgabe zu schaffen, so Rademaker, nämlich den Übergang zwischen Schule, Ausbildung und Beruf zu meistern. „Das Gelingen oder Nicht-Gelingen in dieser Phase entscheidet mit über die späteren Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe und hat somit auch langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit.“ Deshalb nimmt co*gesund bildungsbenachteiligte Jugendliche in genau dieser Übergangsphase in den Blick und schließt damit eine – wie der Forschungsstand gezeigt hat – Forschungslücke. Was belastet die Jugendlichen? Mit welchen Maßnahmen können sie sinnvoll unterstützt werden? Wie lässt sich ihre Resilienz stärken? Karen Heid hat diese Fragen in Interviews mit Fachleuten der Sozialen Arbeit, Lehrkräften und in Gruppendiskussionen mit Jugendlichen erörtern lassen. „Wir können so verschiedene Perspektiven einbeziehen, insbesondere die derjenigen, die es direkt betrifft. Und hier erfahren wir auch, welche Ressourcen die Jugendlichen selbst mitbringen.“
Wer schon Verantwortung übernommen hatte, kam besser durch die Krise
Neben dem besagten Regelbruch hat sich dabei noch ein ganz anderer Faktor als Resilienz-Verstärker gezeigt: Verantwortung! „Wer bereits Verantwortung übernommen hat, ist in der Regel besser mit den Belastungen während der Pandemie zurechtgekommen.“ Anna Lena Rademaker hat das zum Beispiel an minderjährigen Flüchtlingen gesehen: „Jugendliche mit Fluchterfahrungen haben uns zum Teil berichtet, das sie der Lockdown nicht so sehr belastet hat. Sie hatten – salopp gesagt – bereits weit Schlimmeres gemeistert und mussten in deutlich höherem Maße gut auf sich selbst aufpassen, damit die Flucht gelingt.“
In den Interviews und Diskussionen zeigte sich auf der anderen Seite, dass der Wegfall der Unterstützungsangebote in der Berufsberatung und für die berufspraktische Erfahrung bei zahlreichen Jugendlichen zu großer Unsicherheit geführt hat. Rademaker: „Die Jugendlichen haben während der Pandemie keinen Einblick in die reale Arbeitswelt bekommen, konnten keine Berufe kennenlernen oder ausprobieren. Viele wissen jetzt nicht, wie sie sich entscheiden sollen, und haben Angst, dass ihre einmal getätigte Berufswahl endgültig ist.“
Nächster Schritt: Workshops mit Fachkräften und Jugendlichen
Mit den Erkenntnissen aus Forschungsüberblick, Interviews und Gruppendiskussionen bereitet das co*gesund-Team derzeit Workshops mit Fachkräften und Jugendlichen vor, um zum Abschluss des Projekts im Frühjahr 2023 Handlungsempfehlungen geben zu können, wie sich die Resilienz bildungsbenachteiligter Jugendlicher stärken und ihre Gesundheit fördern lässt. (uh)